Ich schreibe diesen Artikel im Haus meiner Eltern. Meine Mutter ist für eine Woche zur Diagnostik im Krankenhaus. Sie hat diesen Aufenthalt lange vor sich her geschoben, weil sie meinen Vater nicht alleine lassen wollte. Mein Vater hat eine Demenz. Es mag kein Alzheimer sein, aber seine kognitiven Fähigkeiten lassen seit Jahren kontinuierlich nach. Zunächst war nur das Kurzzeitgedächtnis betroffen. Mittlerweile kann er sich auch an frühere Wohnorte oder Menschen, die er mal gut kannte, nicht mehr erinnern. Außerdem zeigt er nahezu keine eigenen Handlungsimpulse mehr und verliert zunehmend die räumliche Orientierung. Deshalb betreuen ich und meine älteste Schwester ihn diese Woche.
Mein Vater hat Angst vor Hunden. Er wurde als Kind zweimal gebissen und hat deshalb immer einen großen Bogen um sie gemacht.
Demenz ist keine Krankheit, sondern sondern die Aufforderung, Akzeptanz zu lernen.
Die Bedeutung von Sicherheit und Kontrolle für Mensch und Hund
Dass ich meine Hunde seit zwölf Jahren mitbringen darf, wenn ich meine Eltern besuche, rechne ich meinem Vater hoch an. Und es ist interessant zu beobachten, welchen Umgang er mit Charlie gefunden hat. Wann immer er ihn sieht, schickt er ihn auf seinen Platz und sagt mit lauter Stimme „Sitz“. Meiner Mutter geht das auf die Nerven. Sie hat ein viel besseres Gefühl für die Bedürfnisse eines Hundes. Aber für meinen Vater ist dieses Signal eine Möglichkeit, den Hund in seinem Umfeld zu kontrollieren und sich sicher zu fühlen, trotz der Angst, die er empfindet. Ich beobachte die Interaktionen der beiden sehr genau. Ich interveniere mit leiser Stimme, wenn Charlie sich durch das Verhalten meines Vaters irritiert oder bedroht fühlt oder ich löse die Situation einfach auf.
Das Gefühl der Sicherheit erwächst unter anderem aus der Einschätzung dessen, was als nächstes passieren wird und, dass wir durch unser Verhalten Einfluss darauf nehmen können. Dies ist umso wichtiger, wenn, wie im Falle von dementiellen Veränderungen, so vieles im Alltag scheinbar unkontrollierbar und beängstigend wird. Deshalb toleriere ich den Umgang meines Vaters mit Charlie. Er kann nur noch wenig in seinem Leben kontrollieren, sodass ihm die Kontrolle des Hundes ein bisschen seiner Handlungsfähigkeit zurück gibt.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, erfolgreich mit dementiell veränderten Menschen zu kommunizieren. Ich nutze die Validierung. Sie basiert auf einer wertschätzenden Annahme der anderen Person und erkennt deren erlebte Realität als gültig (valide) an. Anstatt zu widersprechen oder zu korrigieren, betrachte ich Situationen aus der Perspektive meines Vater und hole ihn dort ab. Es geht also nicht um Konfrontation, sondern darum, gemeinsam in die gleiche Richtung zu blicken. Das ist nicht ganz einfach, und manchmal auch ziemlich anstrengend. Aber mir fällt es viel leichter, diese Haltung einzunehmen als beispielsweise meiner Mutter oder meinen Schwestern. Und als wir kürzlich alle miteinander spazieren gingen, wurde mir plötzlich bewusst, warum das so ist.
Natürlich habe ich die Validierung erlernt und als ehemalige Krankenschwester auch angewendet. Aber Validierung ist auch etwas, das ich täglich im Umgang mit meinem eigenen Hund und in der Arbeit mit anderen Menschen und deren Hunden anwende. Ich betrachte Situationen aus der Sicht des Hundes. Ich ziehe in Betracht, dass der Hund möglicherweise etwas ganz anderes wahrnimmt als ich. Ich gestehe dieser anderen Wahrnehmung denselben Wahrheitsgehalt zu wie meiner eigenen. Und ich frage meinen Hund, an welcher Schnittstelle unserer beider Realitäten wir uns treffen können und in welche Richtung wir gemeinsam weitergehen können.
Auch Hunde können sich dementiell verändern (Quelle Pixabay, Gabriela Neumeier).
Ich bin immer wieder aufs neue erstaunt darüber, was mich das Leben mit Hunden über das Leben selbst lehrt. Die Erkenntnis, dass mich Hunde lehren, meinen Vater, so wie er jetzt ist, liebevoll anzunehmen, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit. Dies umso mehr, als ich und mein Vater über die Jahre selten einer Meinung wahren und viele Konflikte ausgetragen haben.
Und auch mein Leben mit Charlie war und ist eine einzige Lernkurve. Ich bin froh, dass er mit seinen zwölf Jahren immer noch verhältnismäßig fit ist. Denn ich habe noch lange nicht alles gelernt, was er mir beizubringen hat. Ich bin noch lange nicht so gut darin wie er, Bedürfnisse wahr und ernst zu nehmen und zu artikulieren. Ich hinke ich Sachen Lebensfreude weit hinter ihm her. Und auch seine Fähigkeit, sein Bedürfnis nach Nähe und Distanz in einer Beziehung zu regulieren, ist viel besser als die meine.
Ob, wie und wo es für mich weitergeht, weiß ich noch nicht.
Und was ist inzwischen bei mir passiert ?
Die Reha ist nun sechs Wochen her. Ich durfte feststellen, dass die schwierigste Übung der Reha das Nachhausekommen ist. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Ein Loch aus Depression, absoluter Lebensmüdigkeit und suizidalen Gedanken. Was mich momentan am Leben hält, ist meine Verantwortung für Charlie. Was mich aber auch am Leben hält, ist die Erkenntnis, dass ich nicht mehr kämpfen will. Ich sitze in einem Loch. Aber wer sagt denn, dass ich da unbedingt raus muss ? Wer sagt denn, dass es mir unbedingt besser gehen muss ? Ich sitze in einem Loch und das ist okay . Ich kann den Himmel über mir sehen, aber ich muss da nicht hin. Ich sitze in einem Loch und ich lehne mich an der Wand an. Das ist okay. Das ist Akzeptanz. Vielleicht ändert sich irgendwann wieder etwas, vielleicht auch nicht. Was auch immer passiert oder nicht passiert, es ist okay. Ich sitze hier unten und lerne von meinem Hund. Radikale Akzeptanz.
Alles Liebe
Biggi