Menschen kommen zu mir in die Beratung, weil sie ein bestimmtes Verhalten ihres Hundes stört, weil es sie überfordert oder weil sie es schlicht nicht verstehen. Da Verhalten immer dazu da ist, Bedürfnisse zu erfüllen, bin ich zunächst bemüht, durch Fragen, Zuhören und Beobachten herauszufinden, worum es dem Hund geht. Im weiteren Verlauf arbeite ich dann erst einmal mit Management. Schritt zwei und drei sind, einen Rahmen anzubieten, in dem sich die Halterin mit ihren eigenen Reaktionen und Gefühlen auf das Verhalten des Hundes auseinandersetzen kann, gefolgt von gezieltem Training für Hund und Mensch, sofern das überhaupt noch nötig sein sollte.
Management oder, anders ausgedrückt, das „Arrangement der Antezedenzien“ bedeutet, die Rahmenbedingungen einer Situation so zu gestalten, dass sich der Hund gar nicht mehr genötigt sieht, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen oder er nicht mehr die Gelegenheit dazu erhält. Im Fall eines verstärkt leinenreaktiven Hundes zum Beispiel könnte ausreichender Abstand zu anderen Hunden eine Managementmaßname sein. Bei einem überenthusiastischen Begrüßer an der Haustür erfüllt ein Kindergitter am Zugang zum nächsten Zimmer denselben Zweck.
Charlie und Nana hinter einem Kindergitter während eines Umzugs.
Bedürfnisse erzeugen Gefühle und Handlungsimpulse
Management ist natürlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Aber es kann Situationen beruhigen und uns im Leben mit Hund wieder handlungsfähig machen. Verhalten liegen Bedürfnisse zugrunde und diese erzeugen Gefühle, die, je nachdem, ob die Bedürfnisse erfüllt werden oder nicht, unterschiedliche Handlungsimpulse zur Folge haben. Es ist wichtig, die zugrundeliegenden Bedürfnisse zu verstehen, weil wir andernfalls nur an Symptomen herumdoktern.
Was für hundliches Verhalten gilt, trifft auch auf Menschen zu. Allerdings stellt sich die Situation bei uns noch ein klein wenig komplizierter dar. Hunde nehmen in der Regel den kürzesten Weg vom Bedürfnis zur Erfüllung desselben, d.h. ihr Handlungsimpuls und die Handlung selbst unterscheiden sich meist nicht sehr voneinander. Als Menschen dahingegen sehen wir uns aller Art gesellschaftlicher Zwänge ausgesetzt, die uns viele Verhaltensweisen verbieten. Der Chefin im Zorn das Nasenbein zu brechen oder dem Koch sein versalzenes Essen vor die Füße zu werfen, ist einfach kein adäquates Verhalten, obwohl es sich sicherlich befreiend anfühlen würde. Stattdessen machen wir „gute Miene zum bösen Spiel“ und suchen uns andere Ventile. In den seltensten Fällen ist das klare und sachliche Kommunikation. Meistens sagen wir nichts, nehmen unsere Gefühle wieder mit und lassen sie auf anderer Ebene ab: beim Sport, in kreativen Beschäftigungen, in der Natur etc.
Keine*r von uns geht immer konstruktiv mit Gefühlen und Handlungsimpulsen um. Wir sind alle keine Buddhas. Daher ist es auch normal, dass unsere Anspannung immer wieder mal in die Höhe schnellt, sodass wir dann doch Dinge tun oder sagen, die wir unmittelbar danach bereuen. Die meisten Menschen allerdings erarbeiten sich im Laufe ihres Lebens Bewältigungsstrategien, um konstruktiv mit Spannung umzugehen.
Nun gibt es aber auch Menschen, die für ihre frustrierten Handlungsimpulse kein konstruktives Ventil finden. Sie bleiben auf ihren Gefühlen sitzen und köcheln darin wie in einem Druckkochtopf. Hieraus können als Dauerventil stoffgebundene Süchte ebenso entstehen wie suchtartiges Verhalten – Sport, Arbeit, People Pleasing etc. Verfügt der Kochtopf über kein Ventil, explodiert er in regelmäßigen Abständen, was sich in nach außen oder gegen sich selbst gerichteten Aggressionen äußern kann.
Sport kann zur suchtartigen Betäubungsstrategie werden.
Ein weiser Mann hat einmal zu mir gesagt: „Frau Junge, Sie dürfen alles tun. Sie sollten nur wissen, dass Sie es tun.“ Daher ist es wichtig, sich den Ablauf Bedürfnis – Gefühl – Handlungsimpuls – Handlung bewusst zu machen. Das allein ist schon ein Haufen Arbeit. Und da es sich in Hochanspannungszuständen nicht besonders gut denkt, braucht es darüber hinaus Skills.
Skills sind Maßnahmen, die Anspannung innerhalb weniger Minuten auf ein kontrollierbares Maß herunterregeln. Ich nutze dazu gerne das schnelle Laufen auf der Stelle (geht auch im Sitzen) oder Liegestütze bis zur völligen Erschöpfung. Schreien, Singen, Kopfkissenboxen, Pfefferkörner oder Ingwer kauen funktionieren aber ebenso gut.
Um die Anspannung aber gar nicht erst eskalieren zu lassen, können auch wir uns des Managements bedienen. „Arrangement der Antezedenzien“ bedeutet für Menschen, zu verstehen, welche Trigger die Spannung langsamer oder schneller ansteigen lassen und wie sich der „point of no return“ anfühlt. Wenn ich das verstanden habe, kann ich lernen, mit diesen Triggern umzugehen. Wie im Hundetraining ist das Mittel der Wahl zunächst einmal Distanz. Distanz schafft Sicherheit und Sicherheit ist die Voraussetzung, die Fähigkeit zur Selbstregulation wiederzufinden. Dann bin ich wieder im Kontakt mit meinen Bedürfnissen, anstatt nur blind zu reagieren. Und mit der entsprechenden Begleitung (Coach, Therapeutin, Freundin …) kann ich dann Strategien entwickeln, wie ich mit meinen Auslösern künftig umgehen möchte.
Als Skill angewandt kann Sport schon nach wenigen Minuten zu einer deutlichen Spannungsreduktion führen.
Bedürfnisorientierung für Mensch und Hund
Ich brauche mitunter ziemlich lange, bis ich Dinge, die ich im Außen verstanden habe, auf mich selbst anwenden kann. So ist mir schon seit Jahren klar, dass ich nur dann gut mit einem Hund leben kann, wenn ich seine Bedürfnisse verstehe, sowie bereit und in der Lage bin, sie zu erfüllen. Was aber meine eigenen Bedürfnisse angeht, habe ich lange nach dem Motto gelebt: „Ruhe da unten auf den billigen Plätzen!“ Ich beginne erst jetzt damit, meine Bedürfnisse tatsächlich ernst zu nehmen.
Bedürfnisorientierung im Umgang mit uns selbst ist kein Egoismus und kein Selbstmitleid. Sie ist die Voraussetzung für ein gelungenes Leben. Nur wenn wir wissen, was wir im Innen brauchen und wenn wir dafür sorgen, dass wir es bekommen, sind wir in der Lage, uns auch wieder nach Außen zu wenden und unseren Anteil am Gelingen des größeren Lebens in der Welt zu leisten. Damit bekommt mein Lieblingssatz „Deine Selbstfürsorge ist die Grundlage für das Wohlergehen Deines Hundes“ noch eine weitere Dimension: „Deine Selbstfürsorge ist die Grundlage für das Wohlergehen Deines Hundes und der gesamten Welt!“ Sorge für Dich selbst und Du sorgst für die Welt.
In diesem Sinne hoffe ich, dass Du Dich gut um Dich kümmerst. Ich bin bemüht, dasselbe für mich zu tun. Am Dienstag werde ich entlassen und am Mittwoch fahre ich nach Köln, um Charlie abzuholen. Ich freue mich unbändig auf ihn. Ich denke, dass ich im Nachgang zur Reha noch eine Art Fazit-Artikel schreiben werden. Stay tuned und lass Dich überraschen !!
Bis dahin alles Liebe
Biggi