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"Das hat er ja noch nie gemacht!"

Biggi Junge
Ist dir dieser Satz auch schon mal rausgerutscht ? In der Regel verwenden wir ihn, wenn unser Hund etwas tut, das uns peinlich ist oder er-schreckt. Dann ist er als Entschuldigung an eine anwesende Person gerichtet. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn das letzte Mal verwendet habe. Glücklicherweise ist das schon ziemlich lange her. 

Es war am Ende eines längeren Spaziergangs, als uns ein Vater mit drei ziemlich knatschigen Kindern entgegenkam. Der Weg war zu eng um auszuweichen und ich wollte nicht mehr umdrehen. Also nahm ich Charlie auf meine andere Seite, um wenigstens ein bisschen Distanz zwischen ihn und die Kinder zu bringen. Trotzdem ging Charlie laut bellend ich Richtung der Kinder in die Leine. Ich erschrak. Denn tatsächlich hat Charlie mit Kindern eigentlich kein Problem und ignoriert sie in der Regel. Ich kann mich nicht daran erinnern, was vorher passiert war. Vermutlich waren die Kinder einfach ein Reiz zu viel am Ende eines Spaziergangs und Charlie hatten den Kanal voll. Und bevor ich mich versah murmelte ich besagten Satz in Richtung des Vaters der Kinder. 

Viele Hunde unter demselben Fell

Heute verwende ich ihn nicht mehr. Zum einen bewege ich mich viel vorausschauender, wenn ich mit Charlie unterwegs bin. Zum anderen habe ich sein Erregungslevel und seine Körpersprache viel besser im Blick. Und wenn er dann doch mal die Contenance verliert, dann ist das eben so. Wir verlassen die Situation so schnell wie möglich. Und ich bleibe die ganze Zeit mit meiner Aufmerksamkeit bei meinem Hund. Ich entschuldige mich nicht mehr für sein Verhalten. Charlie darf sagen, wenn ihm etwas zu viel ist.

 

Manche Menschen würden Charlie als leinenaggressiv beschreiben, als verstärkt reaktiv oder als Hund mit einer Leinenaggression. Ja, ein Teil des Hundes reagiert schnell überfordert, wenn ihm etwas für ihn Unangenehmes an der Leine zu nahe kommt. Ein Teil des Hundes, nicht der gesamte Hund. Der Anteil, der in diesem Moment die Führung übernimmt, hat gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung ist. Er hat gelernt, dass ihm ein lautstarkes in die Leine gehen die Distanz verschafft, die er braucht. Dieser Anteil aber tritt auch wieder in den Hintergrund, sobald die Situation bereinigt ist. Denn das ist seine Aufgabe.

 

Charlie hat auch noch ganz andere Anteile. Da ist zum Beispiel der welpenhaft verspielte Knallkopf, der selbst im fortgeschrittenen Alter noch Kampf-, Zerr- und Rennspiele liebt. Da ist das Nähe suchende Sensibelchen, das zu mir her robbt, wenn ich mich in seine Nähe auf den Boden setze, aber sofort wieder Distanz aufnimmt, wenn ich ihn dann mit meinen Händen berühre. Da ist das Familientier, das am liebsten alle seine Lieben an einem Tisch versammelt, um sich dann mitten drunter zu legen und einzuschlafen. Und da ist auch der souveräne, alte Hund, der mit genug Zeit und Distanz in der Lage ist, sich von Triggern abzuwenden, so als ob er sagen wollte „Komm wir gehen weiter. Für den Scheiß bin ich zu alt.“





Wir sind alle Viele

Ja, Zuschreibungen sind praktisch, Kategorien erleichtern uns die Einschätzung und Schubladen nehmen uns das Denken ab. Aber sie reduzieren auch die Wahrnehmung und engen die Vorstellung davon ein, was möglich ist. Das gilt für Deinen Hund wie auch für Dich selbst.

 

So wie Dein Hund viele Persönlichkeitsanteile unter seinem Fell verbirgt, so bestehst auch Du aus vielen, unterschiedlichen Anteilen. Diese Anteile haben Gesichter und Geschichten. Sie haben eigene Erfahrungen, Angewohnheiten und Vorlieben und sie haben unterschiedliche Gedanken und Emotionen. Und das ist völlig normal. Ich zum Beispiel habe oft Angst. Aber sie ist nicht immer da. Es ist ein bestimmter Anteil von mir, der diese Angst in mir trägt. Dieser Anteil ist sehr jung, sie hat eine Gestalt und eine Geschichte. Ein anderer, oft präsenter Anteil ist eine leistungsorientierte, klar strukturierte und konsequent logisch denkende, junge Erwachsene. Und noch mal ein Anteil ist eine wütend um sich schlagende, hilflose Teenagerin. Sie und noch viel mehr Anteile sind jeden Tag in mir präsent.

 

Klingt chaotisch ? Ist es auch. Aber es ist auch völlig normal. Innerer Widerstreit, innere Konflikte und Unklarheit, Verwirrtheit, Wechselhaftigkeit, all das darf sein. All das darf Raum haben. Wir alle sind keine eindeutigen Wesen. Wir müssen uns nicht festlegen. Wir dürfen das Korsett der Erwartungshaltungen ablegen und unsere Vielgestaltigkeit erkunden. Und wenn Du in Deiner Erkundung dann auf Anteile triffst, die verunsichern oder auf den ersten Blick nicht liebenswert erscheinen, dann darfst Du Dir Hilfe holen, um zu erkennen, was diese Anteile brauchen, um gut leben zu können.


Wenn Du mehr darüber wissen möchtest, wie Du mit Deinen inneren Anteilen arbeiten kannst, dann sei Dir Richard Schwartz, Begründer der Internal Family Systems Therapie ans Herz gelegt. In seinen Buch "Systemische Therapie mit der inneren Familie" demonstriert er anhand vieler Fallbeispiele, wie Du alle Deine Anteile integrieren und zu einem neuen Verständnis Deines Lebens gelangen kannst. 

 


Der Preis der Akzeptanz

Es ist nicht einfach, die Zwangsjacke der Stromlinienförmigkeit abzulegen. Schließlich lernen wir von früher Kindheit an, wie wir zu sein haben, was wir zu tun und zu lassen haben, um akzeptiert zu werden. Der Preis aber, den wir für diese Akzeptanz bezahlen, beinhaltet Leichtigkeit und Lebensfreude, Authentizität und Kreativität und schlussendlich auch unsere Gesundheit.

 

Das ist es nicht wert. Und dafür bist Du nicht auf dieser Welt. Schau Dir Deinen Hund an, gerade auch dann, wenn sie Dich mit ihrem Verhalten manchmal vor große Herausforderungen stellt. Schau, wie sie nahtlos zwischen ihren Anteilen hin und her wechselt. Vielleicht kannst Du von ihr lernen, wie befreiend es ist, so zu sein, wie Du jetzt gerade eben bist. 



Alles Liebe

Deine Biggi



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