Das Englische kennt die Metapher „fighting an uphill battle“, was soviel bedeutet, wie gegen widrige Umstände anzukämpfen. Nichts liegt mir ferner, als die Mensch-Hund-Beziehung als Kampf zu betrachten, aber das Bild hat etwas. Es verdeutlicht, dass in einer Beziehung, die nicht gleichberechtigt geführt wird, Anforderungen und Möglichkeiten ungleich verteilt sind. Es ist, als ob ein Fußballspiel auf einem abschüssigen Feld ausgetragen würde.
Mitspracherecht ?
Wenn wir einen Hund bei uns aufnehmen, ist das unsere Entscheidung. Die Motive mögen ehrenwert sein, der Hund aber wird dazu nicht befragt. Er muss seine gewohnte Umgebung verlassen, sei es den Züchter, die Straße oder das Tierheim. Er kommt an einen fremden Ort, dessen Regeln er nicht kennt, wo Menschen anders riechen, sich anders verhalten und womöglich auch noch vollkommen anders klingen. Er muss sich mit neuen Umgebungsreizen auseinandersetzen und mit neuen Begrenzungen.
Ich kann von mir sagen, dass ich mich nach Kräften bemühe, meinem Hund die Freiheit zu bieten, seine Bedürfnisse auszuleben, und, dass ich einen positiven Umgang mit ihm pflege. Aber auch ich setze ihm jeden Tag unzählige Grenzen. Ich bestimme, wann er raus darf, wohin wir gehen, wie lange wir unterwegs sind und wo er buddeln darf. Ich entscheide, was, wann und wieviel er frisst. Ich bestimme, wann er soziale Kontakte haben darf, mit wem, wie lange und wie häufig. Ich sage ihm, wo ich möchte, dass er liegt und wo nicht. Ich habe entschieden, dass er sich nicht fortpflanzen darf und habe ihn in jungen Jahren kastrieren lassen. So betrachtet ist das ein Haufen Unfreiheit für den Hund einer überzeugt positiv arbeitenden Hundetrainerin.
Erklär mir die Welt !
Hunde leben in einer von Menschen gemachten Welt, deren Konventionen sie nicht kennen und deren Gefahren sie nicht einschätzen können. Dafür brauchen sie unsere Hilfe. Es ist die Verantwortung von Halter*innen, ihren Hunden Kompass und Karte zu sein, damit sie sich in ihrem Umfeld sicher fühlen.
Allerdings beobachte ich oft, dass diese Verantwortung nicht wahrgenommen wird. Bereits von Welpen wird erwartet, dass sie „fertig“ auf die Welt kommen. Sie sollen sofort stubenrein sein, stundenlang alleine bleiben können, eine solide Beißhemmung haben und perfekt abrufbar sein. Frischgebackene Welpen-Eltern fallen häufig aus allen Wolken, wenn sie erfahren, dass der junge Hund all dies erst noch erlernen muss und dass sie es sind, die ihm diese Fähigkeiten beibringen müssen.
Aber auch in weniger extremen Situationen wird der Mangel an Bereitschaft, dem Hund die Welt zu erklären, offensichtlich. Zum Beispiel dann, wenn Menschen über ihre Hunde sagen „Er weiß ganz genau, was ich von ihm will. Er bockt einfach nur.“ Nein, meine Damen und Herren, der Hund weiß nichts genau und bocken tut er auch nicht. In der Regel ist das Verhalten, um das es geht, einfach nicht gut genug aufgebaut und generalisiert, die Umgebungsablenkung zu hoch, Ton und Körpersprache des Menschen zu bedrohlich oder andere Bedürfnisse einfach vorrangig.
"Theory of Mind"
Wenn Hunde unerwünschtes Verhalten zeigen, dann haben sie einen Grund dafür. Allerdings haben sie im Gegensatz zu Menschen nur begrenzte Möglichkeit, ihr Verhalten durch kognitive Einsicht zu steuern. Sie agieren in der Regel auf Grundlage ihrer Emotionen und ihrer aktuellen Bedürfnisse.
Die Kognitionsforschung beim Hund beschäftigt sich derzeit unter anderem mit der Frage, ob Hunde „Theory of Mind“ besitzen, d.h. ob sie zu einer kognitiven Perspektivübernahme in der Lage sind. Kognitive Perspektivübernahme ist die Fähigkeit, sich gedanklich in die Position des Gegenübers zu begeben und die Situation aus seiner/ihrer Perspektive zu betrachten. Die Ergebnisse hierzu sind noch uneindeutig.
Menschen haben „Theory of Mind“. Wir sind in der Lage, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Zugegeben, es braucht geistige Disziplin und Übung, aber wir sind sogar in der Lage, Situationen aus der Perspektive von Tieren zu betrachten. Außerdem können wir Wissen über die Bedürfnisse, Fähigkeiten und das Verhalten von Tieren erwerben. Dieser Weg steht Tieren in der Regel nicht offen. Sie können uns nur beobachten und ihre subjektiven Schlüsse ziehen.
Eine Hundetrainerin ist keine Reparaturwerkstatt
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Menschen nicht nur die Perspektive des Hundes einnehmen können, sondern dass sie auch in der Lage sind, die Situation mit dem Hund, die Beziehung zu ihm, die Motive des eigenen Verhaltens ihm gegenüber samt den zugrundeliegenden Bedürfnissen und Emotionen zu reflektieren.
Wie um alles in der Welt kommen Menschen dann dazu, die Verantwortung für Problemverhalten oder eskalierende Situationen beim Hund zu suchen ?!
Für mich als Hundetrainerin ist es wichtig, Menschen ihre Beteiligung am Verhalten ihres Hundes bewusst zu machen. Hierbei geht es nicht um „Schuld“, sondern um Erkenntnis. Verstehen ist der erste Schritt auf dem Weg zur Veränderung.
Als Hundetrainerin bin ich keine Reparaturwerkstatt für Hunde. Ich bin die Anwältin der Hunde, Dolmetscherin und Mediatorin für die Mensch-Hund-Beziehung. Ich möchte Menschen zeigen, wo sie ihren Hund abholen können, wo sie ihm entgegengehen müssen und wo sie ihn auch einfach mal Hund sein lassen können, damit ein freundliches Miteinander an beiden Enden der Leine entsteht.
In der Vorbereitung zu diesem Artikel habe ich damit begonnen, Charlie viel häufiger nach seinen Vorlieben zu fragen: wo möchte er langgehen, welches Knabberstück möchte er haben, möchte er gekrault werden und, wenn ja, wo und wie lange ? Welche Möglichkeiten siehst Du, Deinen Hund im Alltag mehr selbst entscheiden zu lassen ? Ich bin neugierig und freue mich sehr über Kommentare, entweder unter diesem Artikel oder auf Facebook und Instagram.
Deine Biggi
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