Die Filterblase des Geistes
Beginner’s Mind – Anfängergeist – ist ein zentraler Begriff aus der Achtsamkeitspraxis. Er bezeichnet eine Unvoreingenommenheit und Offenheit gegenüber allem, was ich erlebe, denke, fühle und tue. Wenn ich etwas Neues lernen möchte, öffne ich durch mein Interesse daran meinen Geist. Da ich nichts über das Thema weiß, möchte ich alles aufnehmen, was es darüber zu lernen gibt. Je mehr ich lerne, desto klarer wird mein geistiges Bild von den Fakten und Zusammenhängen. Es entwickelt sich eine Struktur, in die neues Wissen eingefügt werden kann. Je komplexer diese Struktur aber wird, desto fester wird sie auch. Informationen, die sich nicht nahtlos in das bisher Gelernte einfügen, haben es schwer, aufgenommen zu werden. Das kann so weit gehen, dass nur noch ganz bestimmte Informationen aufgenommen werden und alles andere ausgeblendet wird. Im digitalen Bereich nennt sich dieses Phänomen Filterblase.
Kindliche Neugier
Der Anfängergeist begegnet der Welt mit kindlicher Neugier. Er erwartet nichts und erlebt alles so, als ob es das erste Mal wäre. Ein Sonnenaufgang ist einmalig, weil er zu dieser Zeit an diesem Ort niemals wiederkommt. Die Begegnung zweier Menschen ist einzigartig, weil die Umstände ihres Zusammentreffens niemals wieder die absolut gleichen sein werden. Jeder Gedanke ist ein Unikat, weil auch er in dieser Form niemals wiederkehren wird.
Viele von uns fühlen sich in selbstbegrenzenden Denk- und Verhaltensmustern gefangen, wissen aber nicht, wie sie ihnen entkommen können. Die kindliche Herangehensweise des
Anfängergeists
an das Erleben der Welt ermöglicht es uns jedoch, aus festgefahrenen Wahrnehmungsmustern und Erwartungshaltungen auszubrechen. Nur weil ich mein Leben, meine Beziehungen und meine Beschäftigungen lange von einer bestimmten Warte her betrachtet habe, bedeutet das nicht, dass ich das auch weiterhin tun muss. Zugegeben, es braucht eine klare Entscheidung zugunsten der Veränderung, Anstrengung und idealerweise auch Unterstützung, aber ich kann mein Denken jederzeit ändern und eine andere Perspektive einnehmen. Allerdings sollte ich dabei nicht den Fehler begehen, die eine Brille einfach durch eine andere zu ersetzen.
Die Brille abnehmen
Der Einstieg in den Anfängergeist hat ein bisschen etwas von „fake it 'til you make it“. Ich tue einfach so, als ob ich von der Situation, in der ich mich befinde, keine Ahnung hätte und warte, was passiert. Ich nehme die Brille meiner Erfahrungen, durch die ich die Welt bisher wahrgenommen und interpretiert habe, aktiv ab und lasse die unverkleidete Situation auf mich wirken. Das ist weder einfach zu tun noch einfach auszuhalten. Und es ist auch nicht immer und überall durchführbar. Unser Geist filtert und strukturiert unsere Wahrnehmungen nicht ohne Grund. Ohne Filter und automatische Bewertungen wären wir in unserer komplexen und reizüberfluteten Welt sehr schnell überfordert. Daher ist es sinnvoll, den Anfängergeist zunächst eher als Übung denn als Haltung zu praktizieren.
Jeder Tag ein neuer Beziehungsstart
Gedankliche Automatismen und reflexartiges Verhalten schleichen sich gerne auch in Beziehung ein. Das betrifft sowohl die Wahrnehmung des/der Beziehungspartner*in als auch die Interpretation ihres/seines Verhaltens. Und dabei ist es unerheblich, ob es sich dabei um einen Menschen oder um ein Tier handelt.
In der Beziehung zu unseren Hunden – aber nicht nur dort – benutzen wir dabei gerne Label. Hier ein paar Beispiele: „Tierschutzhund“, „traumatisiert“, „Angsthund“, „leinenaggressiv“, „er ist eben ein Herdenschutzhund / Windhund / Terrier / Hütehund …“. Zwar kennen wir in der Regel den individuellen Charakter unseres Hundes, aber viel zu oft reduzieren wir ihn auf eine Handvoll Label, die wir nutzen, um ihn zu beschreiben. Beschreibungen aber entwickeln gern ein Eigenleben. Sie machen uns weiß, dass der Hund eben so ist und nicht (und niemals) anders. Das ist nicht wahr!
Lebewesen sind sehr viel komplexer als unser vereinfachender Geist das gerne hätte. Und deshalb können sie sich auch jeden Tag neu erfinden. Wenn ihnen allerdings täglich Erwartungshaltungen entgegengebracht werden, die sie in bestimmte Rollen zwängen, wird es sehr schwer werden, die eigene Selbstwahrnehmung zu verändern und aus dieser Rolle auszubrechen.
Wenn wir es schaffen, unseren Hunden mit dem Anfängergeist zu begegnen, hören wir auf, sie auf das zu reduzieren, was wir über sie denken. Wir beginnen damit, wieder aufmerksamer hinzusehen. Wir können lernen, die Motivation für ihr Verhalten zu erkennen. Wir eröffnen ihnen die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Und damit eröffnen wir auch uns selbst die Möglichkeit, die Beziehung zu unseren Hunden auf eine andere Basis zu stellen – jeden Tag aufs Neue.
Denn das ist das schönste am Anfängergeist: egal wie tief ich mich wieder einmal in althergebrachte Muster verstrickt habe, ich kann jeden Tag, jede Stunde und jede Minute neu anfangen, immer wieder.
Feedback
Ich freue mich sehr über Kommentare und Fragen. Erzähl mir von Dir und Deinem Hund. Wie nimmst Du ihn wahr? Hast Du Label für ihn? Was würde passieren, wenn Du ihn mit neuen Augen sehen würdest?
Herzlichst
Deine Biggi