Um es vorweg zu nehmen: im folgenden Artikel geht es nicht darum, wie Du die Bindung zu Deinem Hund verbessern kannst. Es geht auch noch nicht einmal darum, zu beurteilen, ob Du eine „gute“ Bindung zu Deinem Hund hast. Das ist ein anderes Thema, dem ich einen separaten Artikel widmen werde.
Heute möchte ich zunächst einmal klären, was Bindung überhaupt ist und welche Bindungstypen es gibt. In einem zweiten Schritt möchte ich Dir dann anhand meiner und Charlies Geschichte zeigen, warum es wichtig sein kann, das eigene Bindungsmuster zu kennen, um die Beziehung zum eigenen Hund zu verstehen und zu gestalten.
Menschen werden mit dem Bedürfnis nach engen emotionalen Verbindungen zu ihren Mitmenschen geboren. Dieses Bedürfnis muss nicht erst erlernt oder geprägt werden. Es ist neurophysiologisch verankert und überlebensnotwendig. Das Schreien, Weinen und Festklammern eines Säuglings gehört zum bindungssuchenden Verhalten ebenso wie das instinktive Hinwenden zur Bezugsperson, um Schutz und Trost zu erfahren.
Wird das bindungssuchende Verhalten beantwortet, beruhigt sich das System des Kindes in der Regel sehr schnell. Es ist dann wieder in der Lage, sich mit sicherem Gefühl der Erkundung seiner Welt zu widmen. So entsteht eine gesunde Balance aus Kontakt und Autonomie. Die Grundlage für unser Bindungsmuster entwickelt sich im ersten Lebensjahr und gilt dann als relativ stabil. Wobei es durch Erfahrungen im Laufe des Lebens durchaus noch modifizierbar ist.
Prägende Bindungserfahrungen entstehen im ersten Lebensjahr.
Kleiner Test, große Aussage: der "Strange Situation" Test
Die kanadische Psychologin Mary Ainsworth entwickelte 1969 den nach ihr benannten „Strange Situation“ Test. Ihr Anliegen war es, kindliche Bindungsmuster zu analysieren. Die elf bis achtzehn Monate alten Kinder wurden Situationen ausgesetzt, in denen die Mutter den Untersuchungsraum verließ und nach einer definierten Zeit wieder betrat. Die Kinder blieben dabei nicht alleine, sondern
in Gegenwart einer neutralen Person. Entscheidend für die Analyse war das Verhalten der Kinder bei An- und Abwesenheit der Mutter sowie im Moment der Rückkehr und der Verlauf der Cortisol-Ausschüttung bei den Kindern während und nach dem Test.
Ainsworth und ihre Kolleg*innen fanden bei den Kindern vier Bindungstypen:
- sichere Bindung
- unsicher-vermeidende Bindung
- unsicher-ambivalente Bindung
- desorganisierte Bindung
Für die sicher gebundenen Kinder bedeutete der Abwesenheit der Mutter Stress. Sie weinten, wollten der Mutter folgen und ließen sich auch von der neutralen Person nicht trösten. Entsprechend stieg ihre Cortisol-Ausschüttung an. Bei Rückkehr der Mutter suchten sie Körperkontakt, beruhigten sich aber schnell und gingen dann wieder zur Erkundung ihrer Umwelt über. Die Mutter bildete gewissermaßen ihre „sichere Basis“, zu der sie aus der Erkundung jederzeit zurückkehren konnten.
Die unsicher-vermeidend gebundenen Kinder erschienen durch die Abwesenheit der Mutter unbeeindruckt. Sie beschäftigten sich primär mit Spielsachen und ignorierten die Mutter auch bei deren Rückkehr. Dennoch ist diese Emotionslosigkeit eine Schein-Unabhängigkeit. Das Spielzeug diente als Stress-Kompensations-Strategie. Denn nicht nur stieg auch bei diesen Kindern der Cortisol-Spiegel an. Er blieb auch nach dem Test noch für einige Stunden erhöht, was bei den sicher gebundenen Kindern nicht der Fall war.
Die unsicher-ambivalent gebundenen Kinder zeigten widersprüchliches Verhalten. Sie reagierten auf die Abwesenheit der Mutter mit extrem großem Trennungsstress und nahmen bei ihrer Rückkehr sofort wieder engen Kontakt mit ihr auf. Jedoch ließen sie sich auch dann kaum beruhigen und zeigten im weiteren Verlauf kein Erkundungsverhalten. Und auch bei ihnen blieb der Cortisol-Spiegel noch längere Zeit erhöht.
In der desorganisierten Variante des Bindungsverhaltens konnten die Kinder weder mit der Trennungs- noch mit der Rückkehr-Situation adäquat umgehen. Sie zeigten zum Teil erstarrendes Verhalten oder Stereotypien, wie sich im Kreis zu drehen oder zu schaukeln, oft begleitet von einer vollständigen Emotionslosigkeit. Diese Kinder erschienen von der Situation völlig überfordert und unfähig, sich selbst zu regulieren, was sich in einem konstant erhöhten Cortisolspiegel äußerte.
Unsere Bindungsmuster zeigen sich auch im Zusammenleben
mit unseren Hunden.
Mir ist bewusst, dass die Erkenntnisse der Bindungsforschung der Humanpsychologie entstammen und sich nicht ohne weiteres auf eine andere Spezies übertragen lassen. Dennoch weisen erste Forschungsergebnisse darauf hin, dass bei Hunden zumindest ähnliche Prozesse ablaufen, wie bei Menschen. Außerdem zeigen sie ganz deutlich sichtbares, bindungssuchendes Verhalten. Und die dem Verhalten zugrunde liegenden, hormonellen Prozesse wie beispielsweise die Ausschüttung von Stresshormonen und Oxytocin finden sich bei Hunden und Menschen gleichermaßen.
Dennoch lehne ich mich beim folgenden Vergleich meiner und Charlies Bindungsmuster natürlich weit aus dem Fenster und möchte betonen, dass dies meine persönlichen Ansichten sind, die keinesfalls als wissenschaftlich gesichert angesehen werden können.
Charlies Bindungsmuster
Charlie wurde im Alter circa zwei Monaten an einer spanischen Autobahn gefunden. Beide Vorderläufe waren gebrochen, wobei die Frakturen schon etwas älter waren. Daher ist davon auszugehen, dass er sich bereits einige Zeit allein und unter großen Schmerzen durchgeschlagen hatte. Im weiteren Verlauf war er im Tierheim aufgrund der Frakturen zunächst ebenfalls isoliert. Erst auf der Pflegestelle in Deutschland erfuhr er für eine Zeitlang emotionale Stabilität sowohl von menschlicher als auch von hundlicher Seite. Und doch war bereits zweimal vermittelt gewesen, bevor er zu mir kam. Beide Familien brachten ihn nach nur kurzer Zeit zur Pflegestelle zurück, weil sie sein unruhiges und widersprüchliches Wesen überforderte.
Ich gehe bei Charlie von einem unsicheren Bindungsmuster aus, das sowohl vermeidende als auch ambivalente Züge trägt. Er reagiert mit sehr großem Trennungsstress, wenn ich ihn ganz alleine lasse. In Gegenwart anderer Menschen kann er zwar scheinbar ruhig bleiben, allerdings interagiert er in der Regel nicht mit ihnen und drückt auch durch seine Körpersprache Anspannung aus. Wenn ich wiederkomme, nimmt er meist nur ganz kurz Kontakt mit mir auf, geht sich dann mit Spiel- oder Knabberzeug beschäftigen, bleibt aber extrem wachsam, was meine Bewegungen im Raum angeht.
Mein Bindungsmuster
Mein eigenes Bindungsmuster ist unsicher-vermeidend. Ich bin sehr gut darin, mich von meinen Gefühlen abzulenken und sie nicht zu zeigen. Was für die Kinder im "Strange Situation" Test die Spielsachen waren, ist für mich die Arbeit. Dabei ist mir inzwischen bewusst, was ich tue und ich bin dabei, mein Verhalten zu verändern. Denn die Souveränität und emotionale Unabhängigkeit, die ich an den Tag lege, ist unterfüttert von einem großen Bedürfnis nach Kontakt und Nähe, das ich gegenüber Menschen aber nur schwerlich zulassen kann. Umso wichtiger ist für mich meine Beziehung zu Charlie. Ihm gegenüber kann ich das Bedürfnis nach Nähe und Offenheit leben
Charlie hat im Laufe seines Lebens viel an Sicherheit und
Souveränität gewonnen.
Hunde sind keine vollwertigen Beziehungspartner
Die Reflektion meines eigenen Bindungsmusters ist wichtig, damit ich weiß, was ich eventuell unbewusst von meinem Hund erwarte. Und tatsächlich hätte ich gerne einen ruhigen, sicheren Pol, der mir die Stabilität gibt, die ich in mir selbst oft nicht finde. Das ist Charlie aber nicht. Und selbst, wenn er es wäre, wäre es unfair, es von ihm zu erwarten. Denn er ist kein Mensch und deshalb auch kein vollwertiger Beziehungspartner. Und ihm diese Aufgabe zuzuschieben, würde an emotionalen Missbrauch grenzen.
Ganz im Gegenteil ist es meine Aufgabe als sein Mensch, ihm eine sichere Basis zu bieten, von der
aus er die Welt erkunden kann. Das ist für jeden Hund wichtig. Vor dem Hintergrund seiner Biographie jedoch haben Sicherheit und Stabilität für Charlie nochmal eine besondere Bedeutung.
Mein Hund ist nicht mein Therapeut
Eine Therapeutin sagte einmal, dass „Tiere unkomplizierte Bindungsangebote machen“. Ja, das tun sie. Menschliche Beziehungen sind komplexer, komplizierter und deshalb auch anstrengender. Und doch sind sie das einzige Übungsfeld, auf dem wir lernen können, unsere eigenen Bindungsmuster zu verstehen und zu verändern.
Charlie bleibt auch in dieser Hinsicht ein Lehrer für mich. Durch sein Verhalten macht er immer wieder unmissverständlich klar, dass es nicht sein Job ist, mein Therapeut zu sein. Er ist mein Hund und möchte als solcher wahrgenommen und behandelt werden. Für die Veränderung meiner Bindungsmuster bin ich selbst verantwortlich, ich in der Interaktion mit anderen Menschen.
Dieser Artikel war für mich ein großes Stück emotionaler Arbeit. Ich hoffe sehr, dass ich Dir dadurch einige Erkenntnisse schenken konnte, die auch für Dich selbst und die Beziehung zu Deinem eigenen Hund hilfreich sind.
Alles Liebe
Biggi
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