Erste Schritte aus dem Shutdown
Lara (Name geändert) ist eine Hündin, die ihre ersten Lebensjahre im Shelter in Rumänien verbracht hat. Als sie Mitte Oktober bei Ihrer Familie in Deutschland ankam, war sie schätzungsweise anderthalb Jahre alt. Die ersten beiden Wochen verbrachte Lara fast ausschließlich in einem Körbchen in einer geschützten Ecke des Hauses. Im Haus bewegte sie sich gar nicht, sie stieg Treppen weder hinauf noch hinunter und musste zum Lösen in den Garten getragen werden. Beim Tragen ergab sie sich völlig und verlor jegliche Körperspannung. Im Garten verzog sie sich sofort in eine Ecke und rührte sich nicht mehr von der Stelle, bis sie wieder hineingetragen wurde. Sie vermied Blickkontakt, fror ein, wenn sich einer der anderen Hunde ihr näherte, aß kaum etwas und trank nur wenig.
Im Laufe der nächsten Wochen erlebte ich dann eine Hündin, die sich in winzig kleinen Schritten aus ihrer Erstarrung zu lösen begann. Sie entdeckte zunächst, dass sie sich Reizen nicht ergeben musste, sondern, dass sie sich ihnen durch Flucht entziehen konnte. Und ja, das ist ein Fortschritt, weil Lara lernte, dass sie ihr Befinden durch ihr eigenes Verhalten beeinflussen konnte. Gleichzeitig begann sie, Blickkontakt zu ihren Menschen aufzunehmen und an einer hingehaltenen Hand zu schnuppern. Gegenüber den beiden anderen Hunden in der Familie ging die Öffnung sogar noch deutlich schneller, sodass erste vorsichtige Spiele möglich wurden.
Einen Schritt vor und keinen zurück
Seither ist fast ein halbes Jahr vergangen. Ich habe das große Glück, Lara und ihre Halterin Anna (Name geändert) seither kontinuierlich begleiten zu dürfen. Gemeinsam haben wir der Hündin die Zeit gegeben, die sie brauchte, ihren Radius zu erweitern und sich mit der Welt auseinanderzusetzen. Und dabei hat sich ein sehr spannendes Muster gezeigt: Lara macht keine Rückschritte. Es scheint fast so, als ob sie einen Haken an Reize und Situationen macht, die sie einmal als nicht bedrohlich bewertet hat. Diese Wahrnehmung ließ in mir den Eindruck entstehen, dass Laras Kernpersönlichkeit viel weniger ängstlich und unsicher sei, als sie durch ihr Verhalten vermuten ließ.
Deshalb begannen Anna und ich auch, die Trainingseinheiten herausfordernder zu gestalten. Wir wollten die Hündin am inneren Rand ihrer Komfortzone entlangführen. Das Ziel war, sie Stressoren in einer Intensität auszusetzen, die sie verarbeiten konnte, ihr aber gleichzeitig alle Wege offenhalten, auf die Reize zu reagieren. Die Inspiration für diese Herangehensweise entstammt zwei Quellen. Zum einen ist das Grisha Stewart, die mit ihrem Behavior Adjustment Training (BAT) die operante Konditionierung auf ein neues Level hebt und die Selbstwirksamkeit des Hundes ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellt. Zum anderen ist es aber auch Robert Mehl, der in dem sehr spannenden Webinar „Neurobiologische Grundlagen von Stress bei Hunden – Schwerpunkt: Assistenzhunde“, organisiert von Sabrina Parczany von assistenzhunde.team, klar zum Ausdruck bringt, dass Resilienz das Ergebnis der Auseinandersetzung mit Stressoren ist.
Lebensfreude pur
Gestern Nachmittag hatte ich wieder einen Trainingstermin mit Lara und Anna. Vordergründig haben wir am Abruf gearbeitet. Lara läuft inzwischen frei mit Schleppleine, sie orientiert sich sehr gut an ihrem Menschen und akzeptiert langsam auch mich, wenn ich und Anna nebeneinander gehen. Den Tag, an dem sie das erste Mal an mir schnüffelt, werde ich mit einem Glas Sekt feiern. Lange kann es nicht mehr dauern.
Was ich gestern aber vor allem gesehen habe und was mich noch immer lächeln lässt, ist eine Hündin, die mit lockerer Körpersprache und lebensfroh über die Wiesen flitzte, ihre Umgebung erkundete, regelmäßig Blickkontakt zu Anna aufnahm und sich zudem sehr souverän mit diversen, beunruhigenden Reizen auseinandersetzte, darunter eine im Wind flatternde Fahne und ein plötzlich aus der Wiese auftauchender, unbekleideter Herr. Letzterer hat Anna und mich deutlich mehr beunruhigt als Lara.
Was muss ein Hund und was muss eine Halterin ?
Laras wundervolle Entwicklung ist nicht zuletzt aber auch der Tatsache geschuldet, dass sie bei einem Menschen gelandet ist, der nicht nur bereit ist, Lara zu geben, was sie braucht. Auch Anna hat sich in den sieben Monaten, die die Hündin bei ihr ist, verändert. Es begann damit, dass sie die Erwartungen, die sie an Lara hatte, hinterfragte. Mithilfe eines lösungsfokussierten Coachings erkannte sie zum Beispiel, dass ihre Erwartungen an die Hündin viel mehr mit ihren eigenen Unsicherheiten und Ängsten zu tun hatten. Ihr Denken und Fühlen drehte sich weniger darum, „was muss der Hund können?“, als darum „Was erwarte ich von mir selbst als der perfekten Hundehalterin?“
Anna hat viel Erfahrung mit Hunden und war lange Jahre Pflegestelle für Tierschutzhunde. Diese Erfahrungen helfen ihr sehr im Leben mit Lara. Das Wichtigste aber, das sie bisher durch Lara lernen durfte, ist loszulassen. Anna hat gelernt, die Vorstellung davon loszulassen, was Lara muss, soll oder braucht und ganz genau hinzusehen, was Lara ihr sagt. Sie hat gelernt, ihre Perfektionsansprüche an sich selbst als Hundehalterin loszulassen und stattdessen mitfühlender mit sich selbst umzugehen. Und nun ist sie dabei, ihre Angst vor Laras Freilauf loszulassen und stattdessen zu lernen, der Hündin zu vertrauen.
Bodhisattvas in Ausbildung
Laras und Annas Geschichte geht weiter. Und ich bin unendlich dankbar, Teil dieser Geschichte sein zu dürfen. Der Mut, die Neugier und und die Offenheit der Beiden sind ein Geschenk, das mich glücklich macht. Es ermöglicht mir, mich als Trainerin und Coachin weiterzuentwickeln. Vor allem aber ermöglicht es mir, zwei Lebewesen zu helfen, ihr gemeinsames Mit- und Füreinander zu finden. Denn für nichts anderes bin ich, sind wir auf dieser Welt. Wir sind hier, um einander zu helfen und einander zu dienen. Der Weg zum Glück ist nicht der des eigenen Vorteils. Der Weg zum Glück ist das Wachstum und die Freiheit der anderen. Insofern ähneln Anna und ich uns sehr. Nochmal ein Grund, weshalb ich so dankbar bin, mir ihr und Lara zu arbeiten.